02. Mai 2022

Erschreckend aktuell: Leonid Zypkin über die Sowjetrealität

Erstmals auf Deutsch: Leonid Zypkins Meistererzählung »Die Winde des Ararat« über die Sowjetrealität in den siebziger Jahren liest man heute als mahnende Parabel, die auf erschreckende Weise aktuell geblieben ist.

Russlands Präsident versucht aktuell, die Uhren zurückzudrehen und seinen Herrschaftsbereich zu einer »neuen Sowjetunion« auszuweiten. Dafür setzt er in einem erschreckenden, überwunden gehofften Ausmaß auf die »alten« Mittel: Machtmissbrauch, Gewalt, Unterdrückung.

Ein Autor, der literarisches Zeugnis ablegte davon, wie das Leben in der alten Sowjetunion für kritisch denkende Menschen war, ist Leonid Zypkin (1926–1982). Sein Werk konnte durch die Zensur zu seinen Lebzeiten nicht erscheinen, hat aber wie durch ein Wunder in der Schublade überdauert. Postum wurden seine Bücher weltweit entdeckt und gefeiert: Sie gewähren auf ganz eigene Weise Einblick in eine untergegangene Welt, wie dies nur mittels Literatur möglich ist.

Seine Meistererzählung »Die Winde des Ararat« erscheint erstmals auf Deutsch und erzählt von einer Ära, die nicht nur im Westen, sondern auch im postsowjetischen Russland fast aus dem Gedächtnis verschwunden ist. Es ist die Ära der Stagnation unter Leonid Breschnew und, ab Mitte der siebziger Jahre, der Beginn einer jüdischen Auswanderungswelle.

In dieser Welt schrieb Leonid Zypkin und leben seine Figuren. Der Autor wurde 1926 als Sohn russisch-jüdischer Eltern in Minsk geboren. Nur knapp überlebte seine Familie den stalinistischen Terror der dreißiger Jahre und die deutschen Angriffe auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Später studierte Zypkin Medizin und arbeitete als Pathologe in Moskau, wo er starken Repressalien ausgesetzt war. Das Schreiben war für ihn der einzige Trost, auch wenn sein literarisches Werk durch die Zensur unveröffentlicht blieb. Er schrieb unermüdlich, doch buchstäblich für die Schublade.

Dass die Bücher Leonid Zypkins überhaupt ans Tageslicht gekommen sind, grenzt an ein Wunder. Als er 1982 starb, war es gerade gelungen, seinen Roman »Ein Sommer in Baden-Baden« außer Landes zu schmuggeln, und eine russischsprachige Exilzeitung in New York begann mit dem Abdruck. Jahre später entdeckte Susan Sontag zufällig in einer Bücherkiste ein selbstgedrucktes Exemplar des Romans und war vollkommen fasziniert davon, auf ein unbekanntes Genie gestoßen zu sein. Dank ihres Engagements wurde der »Mann aus dem Untergrund« in zahlreichen Ländern entdeckt und gefeiert – und eines der bewegendsten und originellsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts vor dem Vergessen gerettet.

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