12. Juni 2023

»Als plötzlich Licht von der anderen Seite durch das Loch im Felsen schien«

Karin Seemayer erzählt in ihrem neuen Roman »Bergleuchten« die Geschichte des Gotthardtunnels aus der Perspektive der Tochter eines Göschener Fuhrhalters und eines jungen italienischen Mineurs. Im Gespräch berichtet die Autorin von ihrer Recherche, ihren Figuren und den unwürdigen Arbeitsverhältnissen beim Tunnelbau.

Liebe Frau Seemayer, Ihr neuer Roman »Bergleuchten« spielt in den Schweizer Alpen zu Ende des 19. Jahrhunderts, als das wagemutige Bauvorhaben, einen Tunnel durch das Gotthardmassiv zu graben, entstand. Warum wollten Sie einen Roman vor dieser historischen wie landschaftlichen Kulisse schreiben?

Bergleuchten
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Der Gotthard fasziniert mich seit Langem. Mein Vater besaß von 1985 bis 2016 ein kleines Haus in der Toskana und wir waren in diesen dreißig Jahren jedes Jahr einmal dort. Irgendwann Anfang der 1990er sind wir über den Pass gefahren, um einem Stau vor dem Tunnel auszuweichen und waren begeistert von der Landschaft. Danach nahmen wir fast immer den Pass anstatt den Tunnel. Vor ein paar Jahren habe ich dann eine Dokumentation über den ersten Eisenbahntunnel gesehen und war überrascht, wie »alt« er ist und was für eine unglaubliche Leistung das damals war. Allein die Vermessung über mehrere Berggipfel hinweg, damit sich die Röhren treffen, war etwas ganz Besonderes.

Und dann interessierten mich die Menschen. Wer waren die Männer, die den Tunnel bauten? Favre, der Visionär, der noch nicht einmal studiert hatte. Er war ein Zimmermannsgeselle, der sich autodidaktisch zum Ingenieur weitergebildet hatte. Und natürlich die Mineure, wie sie lebten, unter welchen Umständen sie arbeiteten. Aber mich faszinierte auch, was ein solches Unternehmen aus einem Dorf wie Göschenen gemacht hat. In dem Schweizer Dorf, das ursprünglich nur ca. dreihundert Einwohner hatte, lebten zeitweise um die tausendfünfhundert Arbeiter, zum Teil mit ihren Familien. Es herrschte eine Art Goldgräberstimmung: Zimmer wurden zu Wucherpreisen an die Arbeiter vermietet, neue Kneipen und Geschäfte eröffnet. Die Historikerin Alexandra Binnenkade schrieb: »Göschenen war nicht nur „Zukunftsstadt“, sondern auch „El Dorado“, ein Goldgräberdorf am Rand der Zivilisation, eine schweizerische „Frontier“.«

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Bauarbeiter in Airolo um 1880

Wie sind Sie bei Ihrer Recherche vorgegangen? Was hat dabei besonders Einfluss auf Ihr Schreiben genommen?

Ich habe zunächst mal im Internet über den Tunnelbau recherchiert und bin auf die Lizentiatsarbeit einer Schweizer Historikerin über den Streik der Arbeiter gestoßen. Dort bin ich den Hinweisen zu ihren Quellen gefolgt und habe die Originalberichte zum Bau der Gotthardbahn von 1875 bis 1882 gefunden sowie antiquarische Bücher. Darunter befand sich auch der Geheimbericht von Oberst Hans Hold, der im Herbst 1875 in Göschenen war, um die Hintergründe für den Streik aufzuklären. Er schildert drastisch die Verhältnisse in Göschenen und die Rechtlosigkeit der Arbeiter. Hilfreich war auch das Portal Alptransit und die Bücher von Felix Möschlin und Oskar Maurus Fontana über den Bau des Tunnels. Im Mai 2022 war ich dann vor Ort in Göschenen, habe die Originalschauplätze erkundet und bin auch von Andermatt über die Teufelsbrücke und durch die Schöllenenschlucht nach Göschenen gewandert.

 

Helene Herger, die Protagonistin Ihres Romans, ist die Tochter eines Göschener Fuhrhalters. Im Gegensatz zu vielen Figuren im Kontext des Tunnelbaus ist sie eine fiktive Figur; was macht sie dennoch zu einer interessanten Protagonistin?

Helene ist eine bodenständige, junge Frau, die in Göschenen verwurzelt ist, doch sie ist auch offen genug, auf die Fremden, die Italiener zuzugehen. Sie interessiert sich für sie und probiert auch die »exotischen« Speisen, die die Bergleute aus ihrer Heimat mitgebracht haben. Sie geht ihren Weg ohne viel Aufhebens und lässt sich auch nicht davon abbringen, wenn andere ihr davon abraten. Sie hält an ihrer Meinung fest. Und sie ist mutig. Sie steht zu Piero, auch wenn ihre Familie gegen ihn ist, sie steht ihm bei, als er in Gefahr gerät und tut, was getan werden muss, ohne zu jammern.

 

Piero, ein Mineur aus dem Piemont, erfährt, wie so viele der italienischen Bergleute, Anfeindungen vonseiten der Einheimischen. Wie darf man sich das Leben eines einfachen Mineurs am Gotthardtunnel vorstellen? Ist das Porträt Pieros einem oder vielen Erfahrungen der historisch verbürgten Mineure nachempfunden?

Pieros Vorbilder sind die italienischen Mineure, die am Gotthard gearbeitet haben. Wobei Piero privilegiert ist, denn er hat ein sauberes Zimmer für sich allein, das hatten die Wenigsten. Denn es gab nicht genug Arbeiterunterkünfte, die meisten Italiener wohnten in Privatunterkünften. Die geschäftstüchtigen Göschener vermieteten jeden verfügbaren Raum an die Arbeiter, auch Abstellkammern oder Ställe. Sie vergaben ein Bett an drei Arbeiter, die in Schichten (entsprechend der Arbeitsschichten) darin schliefen. Die Räume waren muffig und dunkel, weil sich die Fenster nicht öffnen ließen. Es gab keine Toiletten. 

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Quartier der Gotthardbahnarbeiter bei Göschenen, zeitgenössische Zeichnung

Zu Anfang arbeiteten die Mineure in drei Schichten zu je acht Stunden. Die Frühschicht begann um sechs Uhr. Pro Schicht verdiente ein Mineur vier Franken, davon wurde ihm der Preis für die Öllampe (fünf Franken) und das Lampenöl (fünfzig Rappen am Tag) abgezogen. Je weiter die Bohrungen vorankamen, desto länger dauerte der Weg an die Tunnelbrust. Im Jahre 1877 war er fünf Kilometer lang. Deshalb stellte Favre die Arbeit im Richtstollen auf den Zweischichtenbetrieb à zwölf Stunden um. Nach dem Einmarsch arbeiteten die Mineure vier bis fünf Stunden an der Bohrmaschine. Während der Sprengung und dem anschließenden Abräumen durch die Schutterer hatten sie vier Stunden Pause. Dann erfolgte die zweite Schicht an der Bohrmaschine. Anschließend kehrten sie zu Fuß nach Göschenen in ihre Unterkunft zurück. Die Arbeitsverhältnisse vor Ort übersteigen jede Vorstellungskraft. Die Temperatur im Richtstollen stieg 1879 bis auf 32,9° C an, die Luftfeuchtigkeit betrug meistens 99,6%. Zeitgenössische Schilderungen beschreiben, dass die Bergleute oftmals nackt, nur mit ihren Schuhen bekleidet arbeiteten.

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Gemälde »Schichtwechsel beim Bau des Gotthards-Tunnels« von Philipp Fleischer, 1886

Unglücke, grauenhafte Arbeitsbedingungen und Krankheiten prägten den Bau des Gotthardtunnels, aber Ihr Roman zeigt auch Momente der Euphorie und erzählt eine große verbotene Liebesgeschichte. Ohne zu viel zu verraten: Gibt es eine Szene, die Ihnen besonders am Herzen liegt?

Ich verrate nichts, wenn ich sage, dass eine meiner liebsten Szenen der Moment ist, in dem der Sondierbohrer aus Süden durch die letzte Felswand schlägt und sich die Stollen treffen. Das muss ein unglaubliches Gefühl für die Männer vor Ort gewesen sein, als plötzlich Licht von der anderen Seite durch das Loch im Felsen schien.

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