03. Nov. 2023

Israel in höchstens 600 Wörtern – Je mehr sich die Dinge ändern, desto mehr bleibt doch gleich

Der israelische Autor Etgar Keret in seinem Newsletter »Alphabet Soup« vom 31. Oktober 2023
Porträtfoto Etgar Keret
Autor:in

Etgar Keret, geboren 1967 in Ramat Gan, Israel, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Israels.

Seit dem 7. Oktober kann ich kaum schreiben. Für mich bedeutet das Schreiben, sich für einen kurzen Moment aus dem erdrückenden Griff der Rationalität zu lösen und das Bauchgefühl sprechen zu lassen, aber seit der Krieg ausgebrochen ist, sagt mein Bauch nichts mehr. Es ist nicht so, als würde ich nichts fühlen; ich fühle zu viel, und das jeden Moment. Aber meine Gefühle – seien es Trauer oder Wut oder Einsamkeit – führen zu nichts. Und wenn der Bauch verstummt, kann man nichts Bedeutsames schreiben, zumindest nicht so, wie ich schreibe. Mein Kopf steckt voll schmerzlicher Emotionen und einzelner Tatsachen, die ich mir einprägen muss, damit ich eine Antwort habe, wenn mir das nächste Mal jemand sagt, die Hamas sei eine legitime Widerstandsorganisation, oder wenn jemand sagt, alle Palästinenser im Gazastreifen würden die Hamas unterstützen und seien deshalb legitime Ziele. In meinem Kopf sind viele gute Antworten auf schlechte Fragen und einige bruchstückhafte Erinnerungen an meine aufwühlenden Begegnungen mit Kindern und Erwachsenen, die am 7. Oktober ihre ganze Welt verloren haben – aber darüber hinaus nicht viel.

Auf meiner händeringenden Suche nach einem Text, der gut genug für meinen Newsletter »Alphabet Soup« sein sollte, stieß ich auf meine erste Kolumne für eine amerikanische Zeitschrift. Ich schrieb sie vor 22 Jahren, während der Zweiten Intifada. Der freundliche Kulturredakteur der Wochenzeitschrift erklärte, die Leser würden sich sehr für den Nahen Osten interessieren, vor allem seit dem 11. September, wüssten aber nahezu nichts über die Region. »Es wäre großartig«, schlug er vor, »wenn Sie unseren Lesern ein bisschen die Geschichte des Konflikts erklären würden, die aktuelle geopolitische Lage, die Lebenswirklichkeit der Menschen und vielleicht ein paar Gedanken über die weitere Entwicklung des Konflikts und potentielle Lösungen. Oh, und wenn möglich, würden wir uns freuen, wenn Sie es in höchstens 600 Wörtern schaffen.« Mir bot sich damals nicht oft die Gelegenheit, einen Text in einer amerikanischen Zeitschrift zu veröffentlichen, und so ergriff ich sie mit beiden Händen.

Mehr als zwanzig Jahre sind vergangen, und die Lage im Nahen Osten ist nur noch schwierieger geworden. Die Hamas ist zur Erfüllungsgehilfin des Iran geworden und hat sich weiter radikalisiert; Israel hat eine Blockade über den Gazastreifen verhängt und ihn damit im Grunde zu einem riesigen Gefängnis gemacht; die Gewaltspirale dreht sich immer grausamer. Und während sich alles verschlimmert, bleibt eines doch gleich: Die Menschen überall wollen immer noch das höllische Chaos in meinem Teil der Welt verstehen, und ich versuche immer noch, unsere unfassbare Lebenswirklichkeit so gut es geht zu erklären – wenn möglich, in höchstens 600 Wörtern.

Dieser Text erschien zuerst am 7. Dezember 2001 in der LA Weekly.

 

Meine Mutter sagt, ich würde nie verstehen, wie es ist, ein Volk ohne eigenes Land zu sein. Und meine Mutter weiß, wovon sie spricht. Immerhin hat sie den Holocaust überlebt, mitangesehen, wie ihr Zuhause in Polen zerstört wurde, ihre Mutter, ihren Vater und ihren kleinen Bruder verloren und ist schließlich hierhergekommen, ins Land Israel, ihr Land, das Land, von dem sie geschworen hat, sie würde es nie wieder verlassen.

Mein palästinensischer Freund Ghassan sagt, ich würde nie verstehen, wie es für ein Volk ist, unter einer Besatzung zu leben. Nein, er musste nicht den Holocaust durchmachen, und Gott sei dank lebt seine ganze Familie, zumindest noch. Aber von den israelischen Soldaten an den Grenzübergängen hat er die Nase gestrichen voll. »Manchmal ist man in ein, zwei Sekunden durch die Straßensperre, aber manchmal haben sie Langeweile, und dann können sie einem das Leben gründlich vermiesen. Sie zwingen einen, stundenlang in der prallen Sonne zu warten, ohne Grund, nur um einen zu demütigen. Erst letzte Woche haben sie von mir zwei Päckchen Kent Long konfisziert, einfach, weil sie es wollten. Ein Achtzehnjähriger mit einem Gewehr in der Hand und Pickeln im Gesicht kam und nahm mir die Zigaretten weg.«

Adina, die Nachbarin unter uns, sagt, ich würde niemals verstehen, wie es ist, einen geliebten Menschen bei einem Selbstmordanschlag zu verlieren. »Sein Tod war vollkommen sinnlos«, sagt sie. »Mein Bruder ist aus zwei Gründen gestorben – weil er Israeli war, und weil er mitten in der Nacht Lust auf einen Espresso hatte. Wenn dir ein dümmerer Grund zu sterben einfällt, sag mir Bescheid. Und es gibt nicht mal jemanden, auf den man wütend sein könnte. Der Typ, der ihn umgebracht hat, ist schließlich auch tot, in Fetzen gerissen.«

Meine Mutter sagt, es gebe keinen anderen Ort für uns, denn wohin wir auch gingen, wir wären immer Fremde, verhasst, Juden. Ghassan sagt, mein Land, der Staat Israel, sei ein fremdes und eingenartiges Konstrukt, und es gebe nirgendwo auf der Welt etwas ähnliches. Mitten im Nahen Osten tut es so, als wäre es im Herzen Europas, nimmt jedes Jahr am Eurovision Song Contest teil, schickt immer eine Fußballmannschaft zu Europapokalen, und es begreift einfach nicht, dass es inmitten einer Wüste liegt, umgeben von einer nahöstlichen Mentalität, die es nicht zur Kenntnis nehmen will. Adina sagt, unsere Uhr sei eigentlich schon abgelaufen, und jedes Mal, wenn sie nach einem Terroranschlag sieht, wie palästinensische Kinder außer sich vor Freude sind und Süßigkeiten verteilen, denke sie daran, wie diese Kinder aufwachsen werden. Deshalb sollte ich mit diesem ganzen Unsinn von wegen Frieden aufhören.

Und wenn meine Mutter, Ghassan und Adina eines gemeinsam haben, dann ihre feste Überzeugung, dass ich auf keinen Fall verstehen könnte, was in ihren Köpfen vor sich geht.

Dabei kann ich mir sogar ziemlich gut vorstellen, was in den Köpfen anderer Leute vor sich geht, zumindest manchmal, vor allem in schlechten Zeiten. Damit verdiene ich sogar mein Geld. Alle möglichen Medien aus dem Ausland rufen mich an und bitten mich, in höchstens 600 Wörtern zu erklären, was die Menschen in Israel denken.

Ich wünschte nur, ich könnte neue Gedanken für sie erfinden – Gedanken, die ein bisschen weniger angstvoll sind, ein bisschen weniger hasserfüllt. Die positiver sind, optimistischer, kurz und bündig, nicht mehr als 600 Wörter.

 

Mit freundlicher Genehmigung © Etgar Keret

Übersetzung aus dem Englischen von Eva Kemper

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