12. Sep 2023

»Eis an Aluminium. Hände in Taschen. Hände an Thermoflaschen. Schlamm an Kleidern. Augen an Seilwinde. Augen an Eisbergen«

Nach ihrem vielfach preisgekrönten Debüt »Hier ist noch alles möglich« legt Gianna Molinari ihren zweiten Roman vor, der unsere Vorstellungen von Wachstum und Stillstand hinterfragt und dabei ebenso viel poetische wie politische Kraft entfaltet. Der Roman spielt in den endlosen Weiten der Arktis und in einem kleinen Dorf, dessen ganzer Stolz eine geheimnisvolle Hecke ist. Zur Recherche für den Roman ist Gianna Molinari extra für einige Wochen nach Grönland gefahren. In diesem Text berichtet sie davon.

Ein eindrucksvolles Porträt über die wechselseitige Durchdringung von Natur und Kultur

Hinter der Hecke die Welt
Empfehlung
Hardcover
24,00 €

Ein Dorf hat Angst vor dem Verschwinden. Deshalb trifft es Maßnahmen: Die bei den Touristinnen und Touristen beliebte Hecke wird gehegt und gepflegt, der Stand der Dorfkasse wird regelmäßig überprüft. Vor allem aber kümmert man sich um Pina und Lobo, denn die Kinder sind die Zukunft des Dorfes. Doch Pina und Lobo wachsen schon lange nicht mehr. Während das Dorf auf die Wachstumsschübe der Kinder wartet, beobachtet Pinas Mutter in der Arktis, wie das Eis schmilzt und Grenzen sich verschieben.

Eine Recherchereise zum Buch

Porträtfoto Gianna Molinari
Autor:in

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich.

Wir sind auf Grönland, der grössten Insel der Welt, grösstenteils von Eis bedeckt. Sie hebt sich wenige Millimeter jährlich, während das Eis hier so schnell wie nirgendwo sonst schmilzt. Wir sind auf der Insel, die Trump sich unter den Nagel reissen wollte und auf die schon viele andere Finger zeigen. Wir begleiten dank dem PolARTS Stipendium von Pro Helvetia und dem Swiss Polar Institut zwei Wissenschaftler:innen auf ihrer Forschungsreise.

Jeden Tag fährt Mick den Trucker zwischen Eisbergen hindurch und durch das Meereis in die Eqi Bay, im Westen Grönlands. Die Wissenschaftler:innen lassen Plastiktuben mit der Seilwinde nach unten, die Winde quietscht, rasselt, 40, 60, 90, 120, 160, 240, 310 Meter in die Tiefe, vorbei an den verborgenen Unterseiten der Eisberge, vielleicht vorbei an einem Grönlandhai, bis tief hinab, bis ganz nach unten zu den Heilbutten.

 

Plastiktube an Meeresgrund. Orangene Gummihandschuhe an Kunststoffseil. Finger an Auslöser. Rohrschneider an Rohr. Schweizer Sackmesser an Moosgummi. Eis an Aluminium. Hände in Taschen. Hände an Thermoflaschen. Schlamm an Kleidern. Augen an Seilwinde. Augen an Eisbergen.

Mal hoch wie Häuser, mal fast schon weggeschmolzen, mal geschichtet, mal abgerundet, mal brüchig, mal glatt, durchscheinend oder weiss und blau und grau und braun in allen Schattierungen. Und genau so zahlreich wie das Erscheinungsbild des Eises sind meine Fragen an diesen Teil der Welt, an unsere Reise dorthin: Wie die Unterseite der Eisberge beschreiben? Wie von Grenzverschiebungen in der Arktis erzählen? Wie über diese Landschaft schreiben, ohne sie zu romantisieren? Wie umgehen mit der Widersprüchlichkeit einer weiten Reise? Wie mehr über das erfahren, was verborgen liegt? Was war davor? Was wird kommen? Wie vom Verschwinden erzählen?

 

Gianna Molinari

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