07. März 2024

Kein »American Sweetheart« – Carolin Würfel über Edith Anderson

»A Man’s Job« ist nicht nur die Neuauflage eines alten Romans. Das Buch ist eine Erinnerung an sie, Edith Anderson, und all die anderen Frauen, Lebenskünstlerinnen, unermüdlichen Arbeiterinnen und Schriftstellerinnen, die in dem turbulenten 20. Jahrhundert den Mut aufbrachten, etwas zu wagen, das über das, was ist, hinausgeht. – Carolin Würfel über eine unbeugsame Autorin, die wir endlich neu entdecken können.
A Man's Job
Empfehlung
Band 471 (2024)
48,00 €

1956 veröffentlichte Edith Anderson ihr Romandebüt, »A Man’s Job«, eine Geschichte über das Amerika in Kriegszeiten, aber vor allem eine Geschichte über junge Frauen und ihren Kampf um Gleichberechtigung und Anerkennung. Diese sechs Frauen, die sich erst argwöhnisch beäugen, werden im Verlauf der Erzählung Freundinnen und Verbündete, weil sie verstehen, dass sie einzeln in einem männerdominierten, sexistischen und frauenfeindlichen Klima gar nichts erreichen.

Der Roman erscheint jetzt in vollständig neu überarbeiteter Übersetzung und mit einem Nachwort von Carolin Würfel.

Eine New Yorkerin in Ostberlin

Auszug aus dem Nachwort von Carolin Würfel

Als Edith Anderson ihrem Vater verkündete, dass sie nach Berlin ziehen würde, war er entsetzt. Ihre Entscheidung erschütterte ihn. Eltern reiben sich oft an den Wegen, die ihre Kinder wählen, doch in diesem Fall waren seine Gefühle nachvollziehbar. Seine Tochter, eine jüdische New Yorkerin, aufgewachsen in der Bronx, wollte 1947 ernsthaft nach Deutschland gehen. Sie wollte in ein Land, das Fami­lien wie die ihre verfolgt und ermordet hatte. Und dieser Genozid lag nicht etwa in weiter Vergangenheit, sondern war 24 Monate vorher Realität gewesen.

Was war das für ein Mensch, für eine Frau, die so eine Entscheidung traf? Diese Frage trieb ihren Vater Max Handelsman bis zu seinem Tod 1964 um. Er verstand seine Tochter nicht. Und diese Frage stellt sich auch heute als Erstes, wenn man versucht, sich dem Leben der Schriftstellerin, Journalistin und Autorin Edith Anderson-Schroeder zu nähern, jener Frau, die dieses Buch geschrieben hat. Die Vorstellung, dass eine 32 Jahre alte Jüdin aus New York 1947 freiwillig nach Berlin zog, ist verrückt. Und als sei das nicht genug, ging Anderson auch noch in den Osten der Stadt, zu den Sozialistinnen und Kommunisten, und baute sich ein Leben in der DDR auf, tauschte vermeintlich freie Welt und Alles-haben-Können gegen Trümmer und Mangel ein.

Gleichzeitig macht dieser Schritt den großen Reiz ihrer Biografie aus. Wer weiß, ob Anderson, geboren am 30. November 1915, ohne den Umzug nach Deutschland und in die DDR überhaupt Schriftstellerin geworden wäre, ob es »A Man’s Job« jemals gegeben hätte und die vielen anderen Texte und Werke, Kinder- und Jugendbücher, Übersetzungen, Hörspiele und Memoiren, die bis zu ihrem Tod 1999 veröffentlicht wurden. Diese scheinbar absurde Entscheidung macht sie ehrlicherweise erst zu jener beeindruckenden Figur und Frau, die man – von unbändiger Neugier gepackt – sofort kennenlernen, (wieder‑)entdecken und (neu) lesen will.

Ich bin fast sicher, dass die meisten, die dieses Buch gerade in den Händen halten, den Namen Edith Anderson noch nie gehört haben, was jedoch nichts über sie selbst, ihr Werk, Sein oder Talent aussagt, sondern über die patriarchalen und misogynen Strukturen der westlichen Kultur- und Literaturlandschaft des 20. Jahrhunderts, in der Männer nach vorn geschoben und Frauen mindestens in die zweite Reihe gedrängt oder gleich vergessen wurden. Glücklicherweise ist die Gegenwart etwas progressiver und etwas mehr daran interessiert, zu hören und zu lesen, was Frauen denken, sagen, fühlen. Der Beweis ist die Neuauflage dieses Romans. Und die wiederum ein guter Anlass, um ein bisschen durch Edith Andersons herrlich laute Biografie zu laufen. Autorin und Werk haben in diesem Fall nämlich viel miteinander zu tun.

Die wohl einfachste Antwort auf die Frage, wieso Anderson 1947 New York verließ, ist wahrscheinlich die: Sie ging der Liebe wegen. Oder besser gesagt: dem Versprechen auf Liebe.

Anderson hatte im Frühjahr 1942 einen Mann kennengelernt, einen deutschen Emigranten. Max Schroeder, 15 Jahre älter als sie, groß, hager, attraktiv im verwegenen Sinn, lebte wie sie in New York, war Herausgeber der Exilzeitschrift »The German American«, Autor, Dichter und Schöngeist. Er hatte Gefängnisse und Konzentrationslager überlebt und war 1941 wie so viele verfolgte Kommunisten und Intellektuelle in die USA geflohen. Seine kleine Wohnung lag ein Stockwerk tiefer, direkt unter ihrer, und ganz sicher sind sie im Treppenhaus aneinander vorbeigeeilt. Sie in ihrer Schaffnerinnen-Uniform, er in seinem verwitterten Mantel. Aber ins Gespräch kamen sie erst, als eine ihrer Freundinnen von dem Deutschen erzählte: »Er würde dir gefallen.«

Max wurde für Edith zu einer Art Halbgott. Aus zwei Wohnungen wurde eine Maisonette. Aus Ich und Du ein Wir. Ihr Leben als Erwachsene hatte gerade erst richtig begonnen. Seins hatte ihm bereits unzählige Narben zugefügt. In holprigem Englisch erzählte er ihr vom Terror und von der Schönheit Europas. Manchmal verfiel er nach diesen Gesprächen der Flasche, trank gegen die Schwere der Welt an. Und sie? Sie verfiel ihm, seinem Charme, seinem gebrochenen Herzen und seinen Kochkünsten. Sie waren arm, aber glücklich, mit Löchern in den Hosen und Mäusen, die vorm Bett tanzten. An die Ehe glaubte keiner von beiden. Edith war bereits geschieden: Jugendsünde mit einem Typ aus der Nachbarschaft. Max hatte es einmal versucht, aber der Krieg war dazwischengekommen.

Und viel wichtiger als der Bund der Ehe war für das Paar der Bund mit dem Kommunismus und Sozialismus, mit Lenin und der Arbeiterklasse. Der Traum von einem neuen Menschen, einer friedlicheren Welt und gerechteren Gesellschaft hatte beide – sie in New York, ihn in Deutschland – entflammt. Edith war kurz nach der Highschool in die Kommunistische Partei der USA eingetreten, wie viele säkulare Jüdinnen der damaligen Zeit. Sie glaubte nicht an den Kapitalismus. Sie hatte die Große Depression 1929 miterlebt, den alltäglichen Antisemitismus und Rassismus auf amerikanischen Straßen, die Armut und den Klassenkampf. Max war für seine Parteitreue und kommunistischen Ideale in den 1930er Jahren durch Europa gejagt worden. All das versprach mehr Nähe als ein Ring am Finger.

Na ja, fast. Wie das so ist: Liebe lässt Leute komische Dinge tun. An einem Nachmittag 1944 rief Max Edith aus einer Telefonzelle an und machte ihr einen Antrag. Sie lachte und sagte: »Aber ich bin nicht in dich verliebt.« Er antwortete: »Das wirst du noch.«

1946 wurde Max zurück nach Ostberlin gerufen. Er sollte Cheflektor des Aufbau-Verlags werden, und eine Weile war nicht klar, was aus dieser deutsch-amerikanischen Jahrhundertehe werden würde. Edith grübelte, ob sie ihm folgen sollte. Ihre Freundin Helen Cole fragte: »Hast du Angst, dass du glücklich wirst?« Und vielleicht war das die alles entscheidende Frage. Ja, ihr Vater schlug die Hände über dem Kopf zusammen, aber was hielt sie schon in den USA? Sie hatte an der Columbia University Englisch auf Lehramt studiert, das Studium aber nicht beendet. Sie hatte bei der kommunistischen Tageszeitung »Daily Worker« als Kulturredakteurin gearbeitet, aber den Job nach wenigen Monaten verloren, weil man lieber einen jungen Mann auf die Stelle setzen wollte. Danach war sie vier Jahre lang Schaffnerin bei der Pennsylvania Railroad gewesen und hatte auch dort erfahren, was es heißt, als Minderheit (Frau, Jüdin) in einer Mehrheitsgesellschaft um die eigene Daseinsberechtigung kämpfen zu müssen. Berufliche Erfüllung oder Selbstverwirklichung, wie Marx und Engels in ihren Schriften propagiert hatten, war das alles nicht. Und in diesem Land auf der anderen Seite des Ozeans hatte sich Schreckliches abgespielt, aber der Schrecken war nun offiziell vorbei, und Trümmer bargen Möglichkeiten, einen Neunanfang. Deshalb war Max zurückgekehrt. Leute wie er sollten ab sofort den Ton angeben. Welche junge Frau, welcher Mensch lässt sich davon nicht beeindrucken? Dabei sein, wenn ein neuer Staat gegründet wird, der eine Utopie Wirklichkeit werden lassen will, an die man selbst glaubt. Das ist so ungewöhnlich und irre und aufregend, dass man Anderson vielleicht verstehen kann. Sie wäre genauso verrückt gewesen, diese einmalige Gelegenheit nicht zu ergreifen.

Klingt in der Theorie und auf diesem Bogen Papier natürlich alles romantischer, als es tatsächlich war. Das erste Problem stellte die Einreise dar. Nichtdeutschen Zivilisten war der Aufenthalt im besetzten Berlin nicht gestattet und amerikanische Ehefrauen importieren nicht leicht. Anderson bestieg also ein Schiff nach Frankreich und hoffte über Paris nach Berlin zu kommen. Es dauerte Monate. Ihr Französisch war mäßig, die Franzosen misstrauisch, das Geld knapp. Sie hätte sich fast beim amerikanischen Militär verpflichtet, um endlich bei Max zu sein. Freundinnen und Bekannte wurden eingeschaltet, um an Information zu kommen und zu vermitteln – Anna Seghers (deutsche Schriftstellerin und Kommunistin) zum Beispiel und Simone de Beauvoir (französische Philosophin und Feministin) und Richard Wright (amerikanischer Schriftsteller und Begründer des afroamerikanischen sozialen Realismus).

Schließlich erbarmte sich ein amerikanischer Major namens ­Secouta und gab ihr die notwendigen Papiere und Stempel. Sein persönliches Vergnügen: Ihre Ankunft sollte auf den ersten Weihnachtsfeiertag, den 25. Dezember 1947, fallen. Edith Anderson als Weihnachtsgeschenk für Max Schroeder. Er hatte einen Baum aufgestellt und eine leuchtende Orange für sie daruntergelegt. Es muss einer der glücklichsten Tage dieser Beziehung gewesen sein. Sehnsucht vorbei, Euphorie da. Jetzt würde es endlich losgehen.

Max war irrsinnig stolz auf die Wohnung, die er für sie beide hergerichtet hatte. »Sieh mal, das Wasser läuft!«, rief er und zeigte ihr die Tomatenkästen auf dem Balkon und den hellblauen Boiler und die Kochplatte und den Stromzähler. Heute mag das ulkig klingen, aber Berlin war 1947 eine Mondlandschaft, es gab praktisch nichts, und ihm war es gelungen, aus Nichts ein Zuhause zu schaffen.

Vielleicht ahnte er aber auch, dass die Ankunft in Berlin seine amerikanische Ehefrau dann doch ziemlich schockieren würde und er sicherstellen musste, dass es wenigstens einen Raum gab, in dem sie sich sofort wohl und geborgen fühlte, wo es ein bisschen Farbe und Wärme gab. Außerdem hatte er ihr vorab viel versprochen, damit sie zu ihm nach Deutschland kommt: eine eigene Wohnung, eine Haushaltshilfe, genügend Zeit. Das war der Deal: Er brauchte sie hier in Deutschland, ihren Blick. Edith war für ihn eine Orientierungshilfe in der neuen Gegenwart. Oder in seinen Worten: »Ich brauch dich, deine Reaktion auf das Hier und Heute. Ich brauche dich wie ein Nachschlagewerk.« Im Gegenzug wollte er ihr die Chance bieten, Schriftstellerin zu werden. Eine Chance, die sie in Amerika nie hatte oder sich nie zugestand. Ein Jahr nur für sie, denkend, schreibend. Er würde sich um das Geld kümmern. Als sie nun vor ihm stand, musste er ihr beichten, dass weder eine eigene Wohnung für sie zum Schreiben noch eine Haushaltshilfe in Sicht waren. Sie würde vorerst hier arbeiten müssen, während er, wie angekündigt, das Geld verdient.

Geld war allerdings das geringste Problem, denn Geld bringt nur dann etwas, wenn es Dinge gibt, die man kaufen kann. Doch in einer Trümmerstadt wie Berlin bekam man Nahrungsmittel auf Lebensmittelkarten und alles andere über Beziehungen oder Tauschgeschäfte. Das meinte auch: Alltag war kaum möglich. Ständig standen er oder sie in irgendwelchen Schlangen oder liefen bis ans andere Ende der Stadt, um etwas abzuholen, einzutauschen, irgendjemanden für irgendeinen Dienst oder Gefallen zu bequatschen. Vielleicht versteht man die Lage der beiden am besten so: Die Pfanne, die sie zum Kochen benutzten, war aus einem Wehrmachtshelm gefertigt, und als Edith einmal die Balkontür offen ließ, waren die Vorräte im Schrank danach verschwunden, weil die Spatzen alles vertilgt hatten. Selbst die Berliner Vögel waren spitzfindig. […]

Carolin Würfel, geboren 1986, ist freie Autorin und Journalistin. Zuletzt erschien ihr Bestseller »Drei Frauen träumten vom Sozialismus: Maxie Wander, Brigitte Reimann, Christa Wolf« (2022).

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